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Was morgen wichtig ist - Conradin Cramer über die Bildungs- und Arbeitswelt im Wandel
Aktualisiert: 11. Apr. 2021
Krisen, demographischer Wandel, Digitalisierung und Globalisierung verändern die Gesellschaft. Welche Berufe werden Bestand haben und welches sind die Top-Skills, die in Zukunft noch überzeugen? Wie die Anforderungen an Arbeitnehmende verändern sich aber auch die Erwartungen, die immer selbstverständlicher Kandidat*innen an Arbeitgebende haben. Darüber haben wir mit Dr. Conradin Cramer gesprochen, Regierungsrat/Vorsteher des Erziehungsdepartements Basel-Stadt und ehemaliger Anwalt in einer grossen Wirtschaftskanzlei.

Annina Fischer: Zum Einstieg, was macht Basel als attraktiven Wissens- und Bildungsstandort aus?
Conradin Cramer: Das ist zuvorderst die Internationalität der Forschung und unserer Wissensinstitutionen, namentlich der Universität, die ein internationaler Leuchtturm ist. Zudem die zweiseitige Prägung durch die Naturwissenschaften auf der einen Seite, wo es wertvolle Transfers zwischen Bildungsinstitution und Wirtschaft gibt, und durch die geisteswissenschaftliche Tradition auf der anderen Seite, in der wir historisch, aber auch heute vorne dabei sind. Also diese Dualität von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, auf sehr hohem Niveau, in so einer kleinen Stadt, gibt es kaum anderswo.
Verändern sich die Kriterien, was einen attraktiven Bildungsstandort ausmacht? Oder anders gefragt: Wird die Pandemie verändern, wie wichtig noch ein spezifischer Standort ist, wenn doch alle Inhalte im Prinzip auch virtuell zur Verfügung stehen? Es gibt Studierende, die noch keinen Präsenzunterricht ihrer Uni erlebt haben.
Nein, ich denke nicht, dass der Standort im Sinne eines Wissens- oder Bildungsstandortes an Bedeutung verlieren wird. Um den Punkt in Bezug auf Corona aufzunehmen, zeigt sich ja auch, wie wichtig eben auch die physischen Vernetzungen sind, wie wichtig es ist, dass man sich trifft und zwar nicht zu einer abgemachten Zeit im virtuellen Raum, sondern wie wichtig auch die zufälligen Begegnungen sind und die Möglichkeiten, spontan eine Frage stellen zu können – auch interdisziplinär. Das ist ein wesentlicher Teil dessen, was ein Studium ausmacht. Die schon erwähnte Nähe von Forschung und Wirtschaft namentlich in den Life Sciences, diese grosse Vernetzung auch durch die räumliche Nähe, ist ein weiterer Grund, warum ich sicher bin, dass Basel seine Attraktivität als Bildungs- und Wissensstadt behalten wird. Online-Universitäten und Fernuniversitäten gibt es ja auch schon lange, was seine Berechtigung hat, aber das hat in der Vergangenheit auch nicht die Studien vor Ort ersetzt. Harvard gibt es noch, Oxford gibt es noch und Basel wird es auch noch weiterhin geben. Ein Ort hat auch eine gewisse Magie.
Du nennst Basel in einem Satz mit diesen grossen Namen?
Jaja (*lacht*). Klar, man muss eine gewisse Demut haben, aber das ist schon der Anspruch. Der Chef des Biozentrums beispielsweise kommt ja von Harvard. Zum Anspruch, zu den internationalen Spitzenreitern zu gehören, dürfen wir durchaus stehen.
Um den Blick zu öffnen: Welches sind Berufe, die es in Zukunft noch brauchen wird – nicht nur in Bezug auf jene, für die es einen Hochschulabschluss braucht?
Die Berufslandschaft der Zukunft wird genauso vielfältig sein wie heute, davon bin ich überzeugt. Und zwar auch in Bezug auf die Ansprüche an Qualifikationen, die notwendig sind. Berufe, die menschlichen Kontakt voraussetzen, damit sie gut gemacht werden können, werden an Status und Bedeutung gewinnen. Also Berufe, die man nicht automatisieren kann oder will. Bei einer Arztkonsultation oder in der Pflege will man keinen Roboter, auch wenn das teilweise schon möglich wäre. Auch Handwerksberufe wird es weiterhin brauchen. Für Reparaturen, Service-Kontrollen, Einbauten etc. vor Ort kann man ja keine Drohne vorbei schicken. Viele akademische Berufe, bei denen die Arbeit nicht automatisiert werden kann, braucht es auch weiterhin. Administratives und Repetitives, das automatisiert und digitalisiert werden kann, wird hingegen weniger werden. Davon können Buchhalter genauso betroffen sein wie Anwälte. Es wird also nicht passieren, dass es irgendwann nur noch für Höchstqualifizierte Arbeit geben wird, was manchmal befürchtet wird. Eine Berufslehre kann genauso zukunftstauglich sein wie ein Studium.
Du hast das Stichwort Hochqualifizierung genannt. Das wird oft mit einem hohen Bildungsabschluss assoziiert. Es setzt sich aber immer mehr durch, nicht Bildungsabschlüsse anzuschauen, sondern die tatsächlichen Positionen, die Menschen bekleiden, oder sogar noch mehr die Skills, die Menschen mitbringen. Man muss also nicht nur fragen, welche Berufe es noch zu erlernen lohnt, sondern genauso muss man fragen, welche Skills in Zukunft noch entscheidend sind. Unabhängig davon, ob jemand Mathematikerin, Jurist, Banker oder Elektrikerin ist.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt und ein Bildungssystem möchte heute auch erreichen, dass man jungen Menschen gewisse Skills mitgibt, Skills, von denen wir jetzt denken, dass sie für die nächsten 50 Jahre «verhebe». Weil wir aber nicht wissen, wie die Welt in 20, 40 oder 50 Jahren aussehen wird, probiert man, möglichst breit Skills (Fertigkeiten) auszubilden. Das fängt beim Sprachverständnis und mathematischen Fähigkeiten an, wichtig ist aber auch, Adaptierbarkeit zu trainieren, denn es ist wichtig, sich auf veränderte Situationen und Anforderungen einstellen zu können. Kinder und Jugendliche müssen auch lernen, Informationen systematisch zu filtern, und mit Wissen, das ja unbeschränkt verfügbar ist, umzugehen, es aufzunehmen und einzuordnen. Das sind Fertigkeiten, die man in jedem Beruf braucht. Dann ist nicht mehr so entscheidend, was jemand in einer Erstausbildung lernt, auf der man ja später noch beliebig aufbauen kann. Wir verfolgen in unserem Bildungssystem also den Ansatz, dass man nicht versucht, auf einen konkreten Beruf vorzubereiten, sondern Skills mitzugeben.
Wann sollten Weichen gestellt werden, um junge Menschen gut auf den Start ins Arbeitsleben vorzubereiten?
Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Weichenstellung ist schwierig, auch weil ein Bildungssystem sie nicht immer individuell beantworten kann. Jedenfalls ist es nicht so, dass man umso mehr zukunftstaugliche Fertigkeiten mitbekommt, wenn man möglichst lange in der Schule bleibt und eine Matur macht . Eine Berufslehre kann ein gleich guter Bildungsgang sein wie ein Gymnasium und ein Studium, auch wenn die Berufslehre etwas sehr Konkretes ist und nicht mehr so breit wie die Schule erscheint. Wer eine Lehre absolviert, erwirbt in der Ausbildung, im Lehrbetrieb und im Kontakt mit den Mitarbeitenden oder Kunden dieses Betriebs dafür aber Skills, die ein*e Student*in vielleicht erst mit 29 erwirbt, wenn er oder sie zum ersten Mal ausserhalb von einem Praktikumsverhältnis an einem Ort arbeitet.
Auch lebenslanges Lernen ist wichtig, was eine Grundeinstellung sein sollte, die man schon in der Schule mitbekommen muss. Natürlich ist ein Schulabschluss spitze, aber nur ein Zwischenstand auf dem weitergehenden Weg des Erwerbs immer neuer Fertigkeiten. Das war bei mir am Ende der Schulzeit noch nicht so. Man hat vielleicht mal davon gehört, aber es war eher eine Theorie. Es gibt da einen Paradigmenwechsel, auch für die Lehrpersonen. «Ihr Werk», Jugendliche mit einem Abschluss, fertig für das Berufsleben gibt es so nicht mehr. Diese jungen Menschen hat man, zugespitzt formuliert, nur «parat gemacht», dass sie danach weiterlernen können. Das Bewusstsein und die Offenheit, dass man nie aufhört zu lernen, macht einen z.B. anpassungsfähig und man kann leichter auf Veränderungen reagieren, was auch auf das Berufsleben bezogen wichtig ist.
Nicht nur die Anforderungen der Arbeitswelt an Arbeitnehmende verändern sich. Arbeitnehmende haben auch eine andere Erwartungshaltung an Arbeitgebende. Ein Beispiel ist der Wunsch nach mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit, ein anderes der Anspruch, auch anspruchsvollen Tätigkeiten im Teilzeitpensum nachkommen zu können. Noch vor zehn Jahren wurde jemand, der 80% arbeiten wollte, schnell als zu wenig ehrgeizig abgestempelt. Heute gibt es viele, ausgesprochen leistungsorientierte und karrierewillige Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen (nicht immer sind Kinder der Grund) kein 100%-Pensum haben wollen. Wie ist Deine Erfahrung mit solchen neueren Bedürfnissen bezüglich flexiblen Arbeitszeiten oder Teilzeitarbeit in verantwortungsvollen Positionen?
Das kommt unglaublich stark. Allein in den vier Jahren, in denen ich in dieser Führungsposition bin, hat es sich nochmals akzentuiert. Männer genauso wie Frauen gehen immer öfter ganz selbstverständlich davon aus, dass sie auch mit einem Pensum zwischen 60 und 80% eine Führungsposition einnehmen können. Man denkt auch ganz selbstverständlich über Ko-Leitungen nach und es gibt viele Doppelbewerbungen. Diese Entwicklung geht sehr schnell und es ist auch der richtige Trend. Es geht ja auch darum, Potenzial abzuschöpfen, z.B. von gut ausgebildeten Menschen mit Kindern. Ich kenne viele sehr gut ausgebildete Eltern, die einen verantwortungsvollen Job, ihre Kinder aber nicht fünf Tage in einer Kita betreuen lassen wollen, sondern vielleicht nur zwei bis drei Tage, was machbar ist, wenn beide 60, 70 oder 80% arbeiten. In meiner Wahrnehmung ist so ein Modell eindeutig beliebter als zwei 100%-Pensen mit voller Kitabetreuung. In meinem jetzigen beruflichen Umfeld ist das jedenfalls die Norm. In einer Wirtschaftsanwaltskanzlei ist es vielleicht noch nicht die Norm.
Wie bewertest Du persönlich diese Entwicklung?
Ich sehe die gesellschaftliche Notwendigkeit. Für unsere Gesellschaft, für das Potenzial, das wir uns in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben, seit Frauen genauso gut ausgebildet sind wie Männer, ist es eine notwendige Entwicklung. Es darf nicht sein, dass ein Elternpaar sich entscheiden muss, wer faktisch auf ein befriedigendes Berufsleben verzichtet, wenn beide arbeiten wollen oder müssen, aber keine volle Kitabetreuung wollen. Denn es ist ja so, dass man in der Regel auf dem beruflichen Abstellgleis landet, wenn man z.B. nur 40% arbeitet (während der Partner/die Partnerin 100% arbeitet). Ist es hingegen für Männer genauso wie für Frauen und auf allen Hierarchiestufen grundsätzlich möglich 60, 70 oder 80% zu arbeiten, sieht das ganz anders aus. Dass dies immer mehr zur Selbstverständlichkeit wird, ist für die Gesellschaft ein enormer Sprung zum Gleichberechtigteren.
Die Betreuungsaufgaben von Eltern hören ja auch nicht nach dem Kleinkindalter auf. Auch Teenager brauchen eine gewisse Verfügbarkeit der Eltern, ob für Sorgen, Ärger oder Schulisches. Mit zwei «klassischen» 100%-Pensen können das Eltern kaum leisten. Anders sieht das bei Teilzeitpensen aus, aber auch dann, wenn Arbeitgebende mehr Homeoffice (auch nach der Pandemie) ermöglichen, oder flexiblere Arbeitszeiten, dass man einmal früher gehen und später am Abend nochmals arbeiten könnte. Das bedingt gegenseitiges Vertrauen und geht nicht bei ganz allen Tätigkeiten – aber eher bei mehr, als viele heute glauben.
So richtig und wichtig die Entwicklung zu mehr Teilzeitarbeit ist: Man muss anerkennen, dass sie für Arbeitgebende auch eine Herausforderung darstellt. Das geht von anderen Raumbedürfnissen über grösseren Koordinationsaufwand bis zu höheren Office-Lizenzkosten bei geteilten Stellen. Sich diesen grösseren und kleineren Herausforderung zu stellen ist aber notwendig, gerade wenn man auch Top-Leute haben will, die ein modernes Familienbild leben.